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Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und die Deportation Theihlheimer Juden

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, durch sowietische Truppen gibt Anlass sich an die Deportation einiger Juden aus Theilheim bei Schweinfurt zu erinnern.

I. Die Familie Max Klau

Max Klau, genannt der „Leisers Max“ war ein reicher Kaufmann oder besser gesagt Händler, der mit seiner Familie die beiden Häuser am heutigen Seeberg 3 und 5 bewohnte. In den 30er Jahren waren seine Kinder bereits nach Amerika ausgewandert. Er selbst und seine Frau hatten sich 1941 eine Schiffspassage Bremen – New York gekauft und warteten sehnlichst auf die Ankunft des Schiffes in Bremerhaven.

Da der „Leisers Max“ seinen Beruf unter dem Druck der Nazis nicht mehr ausüben konnte und er von etwas leben musste, fand er schließlich beim Bauern Josef Kraus, damals Hausnr. 61 gegenüber der Kirche, eine Beschäftigung als landwirtschaftliche Hilfskraft. Fast täglich fuhr er dann auf dem Ochsen- oder Pferdefuhrwerk mit dem Bauern oder dessen Tochter Lidwina, der Polin Helena und einem holländischen und französischen Kriegsgefangenen zum Einbringen der Getreide-, Kartoffel- oder Rübenernte aufs Feld. Dabei soll er immer wieder, wie die Bauerstochter Lidwina später erzählte, auf die Komik der Situation hingewiesen und gespottet haben: „Schämst du dich nicht, Lidwina, mit einer solchen Maschbuche – die Dorfbewohner beherrschten einen gewissen Grundwortschatz des Jiddischen – durch die Gegend zu fahren: eine Polin, ein Holländer, ein Franzose und dazu noch ein Jude“.

Als die Wochen und Monate verstrichen und er vergeblich auf die Ankunft des Schiffes in Bremerhaven wartete, soll er angefangen haben zu jammern: „Ihr werdet sehen, eher trocknet das Meer aus, als dass dieses Schiff in Bremerhaven ankommt.“

Was er nicht wusste und auch in ganz Deutschland nur die an der sog.
Wannseekonferenz (20. Januar 1942) beteiligten Nazibonzen wie
Reinhard Heydrich und Adolf Eichmann wissen konnten, hatten die Nazis
die Auswanderung von Juden gestoppt, da diese nun alle der sog.
Endlösung, nämlich der Ausrottung und Vernichtung in
Konzentrationslagern zugeführt werden sollten.

So kam es, dass auch der Leisers Max und seine Frau, trotz bereits bezahlter Schiffspassage, am 22.April 1942 mit 29 weiteren Juden – siehe dazu “ 900 Jahre Theilheim“, S.104 – aufgefordert wurden, sich mit Handgepäck an der Sammelstelle zum Abtransport nach Würzburg einzufinden.

Am Morgen des Tages der Abreise begab sich Lidwina Kraus nochmal in das Haus der „Leisers“ und fand das Ehepaar gegürtet und reisefertig im Wohnzimmer stehen mit der aufgeschlagenen Bibel auf dem Tisch.

Herr Klau klappte die Bibel zu und überreichte sie Lidwina mit den Worten: „Heb` sie auf, Lidwina, und wenn meine Kinder einmal zurückkommen sollten, gib sie ihnen.“

Es war wohl der Bauer Urban Barth, der die an diesem Tag aufgerufenen Juden wie immer mit seinem Pferdefuhrwerk an die Bahn nach Waigolshausen brachte.Nach den Daten der Würzburger „denkort-deportationen.de“ begann die Depotation am Bahnhof in Würzburg am 25. April 1942.

Einige Wochen später erhielt die Familie Kraus eine Postkarte mit dem Text: „Herzliche Grüße aus Theresienstadt, Leiser“. Was die Leute damals nicht begriffen und heute jeder weiß: Herr und Frau Klau waren – Theresienstadt war das Durchgangslager in der Nähe von Prag – auf dem Weg nach Auschwitz. Das war das letzte Lebenszeichen der beiden.

Jahre später – es war wohl in den 60er Jahren – kam eine Gruppe junger amerikanischer Juden nach Theilheim und schaute auch bei der Familie Kraus vorbei. Da fiel Lidwina das Buch ein, das ihr der Leiser gegeben hatte. Sie suchte auf dem Schrank im Nebenzimmer, wo sie es seiner Zeit versteckt und inzwischen völlig vergessen hatte. Einem der jungen Leute, der das verstaubte Buch nahm und öffnete, kamen die Tränen . Als die anderen ihn anstarrten, sagte er: „Es ist die Bibel meines Großvaters.“

II. Der Judenlehrer Weinstock und seine Familie

Theilheim, das kleine Dorf bei Schweinfurt mit kaum mehr als 800 Einwohnern, hatte neben der katholischen Barockkirche mit Zwiebelturm auch ein Synagoge.. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es Zeiten gab, in der die jüdische Bevölkerung des Dorfes mehr als ein Drittel der Einwohner ausmachte.

Da die Juden vor Einführung der allgemeinen Schulpflicht ihre Kinder in der Synagoge unterrichteten, hieß für die Dörfler die Synagoge „Judenschule“.Seit der Pogromnacht vom 9./10. November 1938, welche die Berliner wegen der massenhaften Zertrümmerung von jüdischen Läden und Schaufenstern als „Reichskristallnacht“ bezeichneten, wurde die Lage der Juden immer schwieriger: Sie mussten ihre Geschäfte für einen Spottpreis an die Nazis verkaufen oder wurden enteignet, durften vielfach (Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute etc.) ihren Beruf nicht mehr ausüben und wurden durch die kriegsbedingte Lebensmittelknappheit – nur wer Lebensmittelmarken hatte, die Juden vorenthalten wurden, konnte noch einkaufen – praktisch von der Versorgung abgeschnitten.

So wusste auch der Judenlehrer Weinstock, der in einem eingeschossigen Häuschen neben der Synagoge wohnte nicht mehr, wie er seine Familie mit zwei Kindern, geb. 1932 und 1935, ernähren sollte.

Durch
Vermittlung von Schwester Eustolia, Handarbeitslehrerin
und
Oberin der Franziskanerinnen
in Theilheim, bekam die Frau des Rabbiners Kontakt zu
Agnes Bätz, die mit Mann
und Kindern
am Ende des Dorfes eine kleine Landwirtschaft betrieb.

Wie sich herausstellte, brauchten die Judenlehrers in erster Linie dringend Milch für die Kinder. Frau Bätz versprach, jeden Abend eine Flasche frischer Milch ins Küchenfenster zum Garten zu stellen. Frau Weinstock schlich sich dann in der Dunkelheit von der Synagoge, hinter der das freie Feld begann, über die Schmulersgasse, vorbei an den Scheunen von Stumpf, Graf, Hartmann und Friedrich durch Bätzens Garten ans Küchenfenster und verschwand dann wieder in der Dunkelheit.

Nach
Beginn des Rußlandfeldzugs 1941,
als in Deutschland alles rationiert und nur auf Bezugscheine, welche
Juden nicht bekamen, noch eingekauft werden konnte, wurde die Lage
der Juden immer verzweifelter. Viele versuchten als Knechte bei den
Bauern oder sonstwo
ihr Brot zu verdienen. Einigen blieb nur noch das, was ihnen
wohlwollende Nachbarn zusteckten.
Frau Bätz, die die verzweifelte Situation der Judenlehrers kannte,
gleichzeitig aber wusste, dass es zu gefährlich gewesen wäre, auch
noch andere Lebensmittel ins Küchenfenster zu legen, ersann eine
List.

Sie bat die Frau des Judenlehrers am helllichten Tag zum Bauernhof Hausnummer. 96 zu kommen, an der Haustüre zu klopfen und auf dem Treppenabsatz vor der Haustüre zu warten. Die Bäuerin kam dann heraus mit einer Schüssel Mehl (darin ein halbes Dutzend Eier) und einem Kännchen Milch und erklärte der Jüdin laut und ausführlich – so dass Nachbarn und Vorübergehende mithören konnten – welchen Kuchen (Zopf, Guglhupf, Apfel- oder Zwetschgenkuchen, Dätscher etc.) diese bis zum Wochenende für sie backen sollte. Diese Szene sollte sich Monate lang wiederholen, wobei im Mehl auch manches Stück Fleisch oder Brot versteckt war und Frau Weinstock das angeblich Gebackene, sorgfältig in Papier eingewickelt, in Tüten und Tragtaschen versteckt, mit zurück brachte.

So konnte Frau B. den armen Leuten lange zum Überleben helfen. Aber schließlich wurden sie, nach der berüchtigten Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942, in der die Endlösung der Judenfrage durch Vernichtung in Konzentrationslagern beschlossen worden war, zur Deportation aufgerufen.

So kam es, dass eines Tages – nach den Daten der „denkort-deportationen.de“ wohl am 23. oder 24. April 1942, als der Bauer Ernst Bätz mit Frau und Sohn Albin auf seinem Kuhfuhrwerk durchs Dorf Richtung Krautäcker fuhr, etwa an der Stelle, wo heute die Waage steht, Judenlehrer Weinstock auftauchte und mit Handzeichen um Anhalten bat.

Dem
Bauern war dies nicht ganz geheuer, auf offener Straße vor aller
Augen sich mit einem Juden zu unterhalten, aber schließlich hielt er
doch an. Der Judenlehrer trat heran und sagte: „ Wir werden heute
abgeholt und ich wollte nicht gehen, ohne
mich von Ihnen zu verabschieden und mich für alles zu bedanken, was
Sie für uns getan haben. Vergelt`s Ihnen der Herrgott. Und sollten
meine Kinder einmal zurückkommen, so gebt auch
ihnen ein Stück Brot.“

Sie wurden deportiert – nach den Daten des Würzburger „denkort-deportationen.de“ am 25. Apri 1942 – vermutlich nach Auschwitz, und man hat nie mehr etwas von ihnen gehört.

Der Polizeidiener, ein im Dorf gefürchteter Nazi, der vorher schon den Dorfgeistlichen, Kaplan Anders, durch verleumderische Anzeige – er hatte bei dessen Predigt mitgeschrieben! – für ein Jahr ins Gefängnis gebracht hatte, bezog das Haus des Judenlehrers.

III. Der Dorfpolizist und die Deportation Theilheimer Juden

Der Dorfpolizist Herr Steppert, ein stattlicher Mann, der mit seiner Familie in dem schönen Backsteinhaus gegenüber der Kleinen Schule wohnte, erhielt 1942 eines Tage den Befehl, die in Theilheim zur Deportation aufgerufenen jüdischen Familien nach Würzburg zu eskortieren. Es war dabei angeordnet worden, dass Familien die Wäsche für Babys und Kleinkinder separat zu verpacken hatten.

Am Hauptbahnhof in Würzburg musste Herr Steppert dann mit ansehen, wie den zahlreichen jüdischen Familien aus Unterfranken schon am Bahnsteig Babys und Kleinkinder abgenommen wurden, bevor sie selbst, eingeschüchtert durch Hundestaffeln, unter Gebrüll und Peitschenhieben in die Viehwaggons getrieben wurden. Es muss dabei herzzerreißende Szenen gegeben haben, in denen vor allem Mütter um ihre Kinder kämpften, die sie vermutlich nie wieder sehen sollten.

Herr Steppert, den diese Bilder sicher lange bis in den Schlaf verfolgten, musste als Amtsperson schweigen. So blieb ihm nur die Möglichkeit, bei Leuten, auf deren anti-nazistische Gesinnung er sich verlassen konnte , wie z. B. bei der Familie Kraus, sein Herz auszuschütten. Der Mann soll, als er es Wochen später erzählen konnte, geweint haben.

Im Januar 2020

W.B.