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Die Klagemauer im Mai 2019

https://youtu.be/EP5HRLWFne4




Reichskristallnacht

Die sogenannte „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 in Theilheim

Der
9. Oktober 2019, an dem ein Einzelner, bis an die Zähne bewaffnet,
ca. 50 Juden in einer Synagoge in Halle „auslöschen“ wollte –
nur der Zufall, dass er die Türe nicht auf bekam, hat das Massaker
verhindert -, erinnert an das Geschehen am 9./10. November 1938 in
einem Dorf in Franken mit damals noch vielen jüdischen Mitbürgern.

Wo liegt der Unterschied zu damals? Sicher agierte auch der 27jährige aus Halle nicht im „luftleerem“ Raum, sondern auf dem Hintergrund eines Sumpfes von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus im Internet, aber der allergrößte Teil der Bevölkerung ist zutiefst geschockt und der Staat versucht den Terror von Antisemiten und Rechtsradikalen – wenn auch nicht immer mit Erfolg -, zu verhindern. Damals jedoch war es der nationalsozialistische Staatsapparat, der den Terror gegen Juden organisierte, während die große Masse der Bevölkerung aus Angst oder Gleichgültigkeit wegschaute – oder Beifall klatschte.

Nicht
viel anders war es damals in Theilheim bei Schweinfurt, einem kleinen
Dorf in Unterfranken. Von den vielen jüdischen Familien des
17./18./.19. Jahrhunderts – zeitweise betrug die jüdische
Bevölkerung mehr als ein Drittel – lebte
im Dorf
noch
mehr als
ein Dutzend jüdischer Familien , die bereits Arbeit und soziale
Sicherheit weitgehend verloren hatten und sich oft nur durch
Tageslohn bei Bauern und durch versteckte Hilfe wohlmeinender
Mitbürger über Wasser halten konnten.

Am
9. November, bei Einbruch der Dunkelheit, tauchte im Dorf auf
einem Lastwagen eine Horde Braunhemden, also wohl SA-Männer, auf,
die
die Häuser
der Juden stürmten, Geschirr, aufgeschlitzte Betten und vieles
andere mehr aus den Fenstern warfen und die Bewohner bis zur
Todesangst drangsalierten.

So
kam es, dass spät abends plötzlich an der Haustür von Theilheim
96, heute Taubenbrunnen 6, ein heftiges Pochen zu hören war. Die
Bäuerin Agnes B. öffnete und sah vor sich ein halbes Dutzend an Arm
und Bein zitternder jüdischer Frauen. Noch bevor sie etwas fragen
konnte, bettelten die Frauen eingelassen zu werden, da man sie sonst
noch totschlage.

Ohne
zu zögern, ließ sie die Bäuerin ein und versteckte sie sofort im
Hauskeller, der voller Kartoffel war, sodass es Schwierigkeiten gab,
für jede eine Sitzgelegenheit zu finden.

Dort
verbrachten diese Frauen den Rest der sogenannten
„Reichskristallnacht“. Da das Anwesen Theilheim 96 noch
bis
1936 in jüdischem Besitz gewesen war, bestand überdies die Gefahr,
dass schlecht informierte Braunhemden auch hier noch auftauchen
könnten.

Im
Morgengrauen, als der Lärm im Dorf verstummt war und die
Nazi-Schläger offensichtlich abgezogen waren, bat die Bäuerin die
Frauen, in aller Stille nach Hause zugehen und niemanden zu sagen, wo
sie die Nacht verbracht hätten. Schließlich konnten es sich die
Bauersfamilie mit nur knapp drei Hektar Land und drei kleinen Kindern
nicht leisten, es sich mit den Leuten im Dorf, das inzwischen einen
Nazi-Bürgermeister hatte, zu verscherzen.

Am
Vormittag des 10. November, erschien dann ein weiterer Stoßtrupp von
Braunhemden, der sich daran machte, die „Judenschule“ – so hieß
die Synagoge bei den Leuten – in Brand zu stecken. Ob die Juden
ihre Thora-Rolle und etwaige heiligen Geräte und Gegenstände noch
in Sicherheit bringen konnten, ist höchst zweifelhaft – wohin auch?
So ist es nicht verwunderlich, dass später davon praktisch nichts
mehr auftauchte.

Mit
der Synagoge in Flammen gerieten die Häuser in unmittelbarer Nähe
in Gefahr, Feuer zu fangen. Dies betraf auch das Häuschen des
Rabbiners, im Dorf „Judenlehrer“ genannt, direkt
neben der Synagoge, das
später
von einem Ober-Nazi,
der im Dorf als „Polizeidiener“
fungierte und selbst
noch den Dorfkaplan durch eine verleumderische Anzeige ins Gefängnis
brachte, in Besitz genommen wurde.

Wegen
des sich ausbreitenden Feuers scheinen die Braunhemden
die Dorfbewohner zur Mithilfe beim Löschen aufgefordert zu haben.
Aber einige namhafte Bauern sollen geantwortet haben: „Wer`s
angebrannt hat, soll`s auch löschen“. So kam schließlich eine
Löschkolonne aus Schweinfurt zu Hilfe.

Dass
die Stimmung im Dorf gleichwohl nicht einhellig gegen diese Aktion
der Nazis gerichtet war, zeigt eine Episode, die Lidwina K.
wiederholt erzählte. Sie sei als junge Frau (32 Jahre) zwischen dem
„Urban“ – so hieß der Besitzer des Bauernhofs – und dem
„Heise-Ceser“ auf dem Gehsteig
gestanden
und habe
beobachtet,
wie die Flammen hinter den Häusern hochschlugen, als sie den
„Becke-Hannes Jopher“, einen alten Bauern aus dem hinteren Dorf,
sagen hörte: „Da schaut nur hie, so wern bald unsere Kirchen
brennen.“ – Darauf nahm sein Nachbar
August,
ein alter Bauer neben dem „Urban“,
die Pfeife aus dem Mund und erkärte
laut: „Des wirscht du nit erleben!“

Woher
die Typen vom 9. und 10. November tatsächlich stammten – zumindest
scheinen sich Theilheimer nicht an der Drangsalierung ihrer Nachbarn
beteiligt zu haben -, ließ sich auch damals kaum feststellen, bis
auf einen Mann, der aus Lindach stammte und später mit seiner
Familie Haus und Hof eines Juden in Theilheim bezog.

W.
Bätz