Autor: Willi Baetz

image_pdfimage_print

Reichskristallnacht

Die sogenannte „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 in Theilheim

Der 9. Oktober 2019, an dem ein Einzelner, bis an die Zähne bewaffnet, ca. 50 Juden in einer Synagoge in Halle „auslöschen“ wollte – nur der Zufall, dass er die Türe nicht auf bekam, hat das Massaker verhindert -, erinnert an das Geschehen am 9./10. November 1938 in einem Dorf in Franken mit damals noch vielen jüdischen Mitbürgern.

Wo liegt der Unterschied zu damals? Sicher agierte auch der 27jährige aus Halle nicht im „luftleerem“ Raum, sondern auf dem Hintergrund eines Sumpfes von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsradikalismus im Internet, aber der allergrößte Teil der Bevölkerung ist zutiefst geschockt und der Staat versucht den Terror von Antisemiten und Rechtsradikalen – wenn auch nicht immer mit Erfolg -, zu verhindern. Damals jedoch war es der nationalsozialistische Staatsapparat, der den Terror gegen Juden organisierte, während die große Masse der Bevölkerung aus Angst oder Gleichgültigkeit wegschaute – oder Beifall klatschte.

Nicht viel anders war es damals in Theilheim bei Schweinfurt, einem kleinen Dorf in Unterfranken. Von den vielen jüdischen Familien des 17./18./.19. Jahrhunderts – zeitweise betrug die jüdische Bevölkerung mehr als ein Drittel – lebte im Dorf noch mehr als ein Dutzend jüdischer Familien , die bereits Arbeit und soziale Sicherheit weitgehend verloren hatten und sich oft nur durch Tageslohn bei Bauern und durch versteckte Hilfe wohlmeinender Mitbürger über Wasser halten konnten.

Am 9. November, bei Einbruch der Dunkelheit, tauchte im Dorf auf einem Lastwagen eine Horde Braunhemden, also wohl SA-Männer, auf, die die Häuser der Juden stürmten, Geschirr, aufgeschlitzte Betten und vieles andere mehr aus den Fenstern warfen und die Bewohner bis zur Todesangst drangsalierten.

So kam es, dass spät abends plötzlich an der Haustür von Theilheim 96, heute Taubenbrunnen 6, ein heftiges Pochen zu hören war. Die Bäuerin Agnes B. öffnete und sah vor sich ein halbes Dutzend an Arm und Bein zitternder jüdischer Frauen. Noch bevor sie etwas fragen konnte, bettelten die Frauen eingelassen zu werden, da man sie sonst noch totschlage.

Ohne zu zögern, ließ sie die Bäuerin ein und versteckte sie sofort im Hauskeller, der voller Kartoffel war, sodass es Schwierigkeiten gab, für jede eine Sitzgelegenheit zu finden.

Dort verbrachten diese Frauen den Rest der sogenannten „Reichskristallnacht“. Da das Anwesen Theilheim 96 noch bis 1936 in jüdischem Besitz gewesen war, bestand überdies die Gefahr, dass schlecht informierte Braunhemden auch hier noch auftauchen könnten.

Im Morgengrauen, als der Lärm im Dorf verstummt war und die Nazi-Schläger offensichtlich abgezogen waren, bat die Bäuerin die Frauen, in aller Stille nach Hause zugehen und niemanden zu sagen, wo sie die Nacht verbracht hätten. Schließlich konnten es sich die Bauersfamilie mit nur knapp drei Hektar Land und drei kleinen Kindern nicht leisten, es sich mit den Leuten im Dorf, das inzwischen einen Nazi-Bürgermeister hatte, zu verscherzen.

Am Vormittag des 10. November, erschien dann ein weiterer Stoßtrupp von Braunhemden, der sich daran machte, die „Judenschule“ – so hieß die Synagoge bei den Leuten – in Brand zu stecken. Ob die Juden ihre Thora-Rolle und etwaige heiligen Geräte und Gegenstände noch in Sicherheit bringen konnten, ist höchst zweifelhaft – wohin auch? So ist es nicht verwunderlich, dass später davon praktisch nichts mehr auftauchte.

Mit der Synagoge in Flammen gerieten die Häuser in unmittelbarer Nähe in Gefahr, Feuer zu fangen. Dies betraf auch das Häuschen des Rabbiners, im Dorf „Judenlehrer“ genannt, direkt neben der Synagoge, das später von einem Ober-Nazi, der im Dorf als „Polizeidiener“ fungierte und selbst noch den Dorfkaplan durch eine verleumderische Anzeige ins Gefängnis brachte, in Besitz genommen wurde.

Wegen des sich ausbreitenden Feuers scheinen die Braunhemden die Dorfbewohner zur Mithilfe beim Löschen aufgefordert zu haben. Aber einige namhafte Bauern sollen geantwortet haben: „Wer`s angebrannt hat, soll`s auch löschen“. So kam schließlich eine Löschkolonne aus Schweinfurt zu Hilfe.

Dass die Stimmung im Dorf gleichwohl nicht einhellig gegen diese Aktion der Nazis gerichtet war, zeigt eine Episode, die Lidwina K. wiederholt erzählte. Sie sei als junge Frau (32 Jahre) zwischen dem „Urban“ – so hieß der Besitzer des Bauernhofs – und dem „Heise-Ceser“ auf dem Gehsteig gestanden und habe beobachtet, wie die Flammen hinter den Häusern hochschlugen, als sie den „Becke-Hannes Jopher“, einen alten Bauern aus dem hinteren Dorf, sagen hörte: „Da schaut nur hie, so wern bald unsere Kirchen brennen.“ – Darauf nahm sein Nachbar August, ein alter Bauer neben dem „Urban“, die Pfeife aus dem Mund und erkärte laut: „Des wirscht du nit erleben!“

Woher die Typen vom 9. und 10. November tatsächlich stammten – zumindest scheinen sich Theilheimer nicht an der Drangsalierung ihrer Nachbarn beteiligt zu haben -, ließ sich auch damals kaum feststellen, bis auf einen Mann, der aus Lindach stammte und später mit seiner Familie Haus und Hof eines Juden in Theilheim bezog.

W. Bätz

Weinbau: Glanz und Elend des Weinbaus in Theilheim

Weinberg in Theilheim
Glanz und Elend des Weinbaus in Theilheim

Das Theilheimer Weinfest im August 2019 ist ein guter Anlass den Weinbau der letzten Jahrzehnte in Theilheim Revue passieren zu lassen. Dies lässt sich am einfachsten an der Geschichte eines Weinbergs veranschaulichen.

Als die Regierung von Unterfranken im Mai 1984 für die Flur-Nr. 581, Lagebezeichnung „Sommerberg“ die Genehmigung zur Neuanpflanzung von Weinreben erteilte, war das Interesse groß, da kurz darauf der EG-Anbaustopp in Kraft trat.

Der Weinberg wurde dann an einen seinerzeit recht erfolgreichen Winzer in Hergolshausen auf 20 Jahre verpachtet. Den Anschlussvertrag für weitere 10 Jahre hat der Pächter jedoch Anfang 2005 völlig unerwartet aus familiären Gründen gekündigt.

Zu diesem Zeitpunkt gab es mehrere Interessenten, die den Weinberg nicht pachten, sondern kaufen wollten, ein Angebot, das ich ablehnen musste, da die Verpachtung langfristig zu den Einkünften meiner Schwester beitragen sollte.

Da durch die verspätete Kündigung des Pachtvertrags die Zeit für erste Arbeiten im Weinberg bereits näherrückte, bot ich den Weinberg, den ich ja nicht selbst bearbeiten konnte, für das laufende Jahr völlig pachtfrei einem jungen Winzer an, in der Hoffnung, im Anschluss daran einen für beide Seiten günstigen und langfristigen Pachtvertrag abschließen zu können. Diese Erwartung sollte sich jedoch nicht erfüllen.

Meine Notlage ausnutzend, bot man mir für den ganzen Weinberg gerade mal 180 € und ein paar Dutzend „Flaschen Wein“. Obwohl dies für den Verpächter langfristig völlig uninteressant war, blieb mir aufgrund der Umstände keine andere Wahl, als für wenigstens 10 Jahre abzuschließen. Aber es sollte noch schöner kommen: Im letzten Pachtjahr weigerte man sich sogar, mir die volle Anzahl der nach Pachtvertrag vereinbarten „Flaschen Wein“ auszuhändigen, wenn ich mich dabei nicht auf den billigsten Wein beschränkte. So schuldet mir der Pächter noch heute anderthalb Dutzend Flaschen, und ich kann nur hoffen, dass er seinen Jahresgewinn dadurch wesentlich steigern konnte.

In der Zwischenzeit hatte sich die Marktsituation für die Winzer grundlegend geändert. Es gab und es gibt auch heute, wie man mir in Wipfeld versicherte, inzwischen mehr Weinberge zum Pachten oder auch zum Kaufen, als der Markt verkraften kann. Einer der Gründe dafür ist sicher ein seit 2016 gültiges bayerisches Gesetz, nach welchem das Pflanzrecht automatisch dem zufällt, der den Weinberg rodet und neu anlegt. Dadurch werden alle nicht selbst aktiven Weinbergsbesitzer automatisch aus dem Markt gedrängt.

In dieser Situation war an ein Verpachten des Weinbergs nicht mehr zu denken. Da keiner der Weinbauern in Theilheim an einem Kauf interessiert war, verkaufte ich den Weinberg schließlich an einen Liebhaber aus einem Nachbarort.

So ist ein Theilheimer Weinberg, der wohl schon vor mehr als hundert Jahren betrieben wurde – bereits mein Ur-Urgroßvater und Urgroßvater Brehm betrieben nach Aufzeichnungen dort einen Weinberg – wegen der angespannten Marktlage nun in ortsfremde Hände übergegangen.

Theilheim, im heißen Sommer 2019

W. Bätz

75 Jahre danach: Hergolshausen, Grafenrheinfeld, Röthlein und Hirschfeld brennen!Die Bombennacht vom 24. auf 25. Februar 1944 erlebt von einem Siebenjährigen in Theilheim

Es war nicht, wie in der Theilheimer 900-Jahr-Chronik auf S. 107 ausgeführt, im Februar 1943, sondern mit Sicherheit im Februar 1944, da der damals Siebenjährige am folgenden Morgen als Erstklässler in die Kirche zum Erstkommunionunterricht bei Kuratus Martin gehen mußte, während er im Februar 1943 noch nicht einmal eingeschult war.

Eigentlich war der Siebenjährige längst an regelmäßige Luftangriffe auf Schweinfurt gewöhnt. Für jeden der drei Brüder, Alois, Albin und Willibald Bätz – die 1939 geborene Schwester Maria (verh. Stumpf) wurde von Mutter extra versorgt – lag abends ein Bündel Kleider neben dem Bett, und bei Fliegeralarm packte jeder sein Bündel und ging mit der Familie über den Hof in den Rübenkeller unter der Scheune, wo einige Stühle und Bänke hergerichtet waren, auf denen man das Ende des Luftangriffs abwarten konnte.

In der Nacht des 24. Februar war alles anders.

Der Heulers Johann, ein alter Mann aus dem letzten Haus im Dorf Richtung Schwanfelder Berg, der, weil er ein Radio besaß, immer kam, am Fenster klopfte und der kinderreichen Familie rechtzeitig den Anflug feindlicher Bomber meldete, war an diesem Abend gegen 10 Uhr offensichtlich zu spät dran; denn Minuten später hörte man bereits den Einschlag von Bomben.

Die Kinder kamen zwar noch rechtzeitig aus den Betten und zogen sich an, aber zum Gang über den Hof reichte es nicht mehr; denn schon klirrten die Fenster und schepperten die Türen in den Angeln bei den nicht mehr enden wollenden Explosionen von Bomben in allen Himmelsrichtungen. Dies war, völlig ungewohnt, kein Angriff auf Schweinfurt, sondern offensichtlich auf die umliegenden Dörfer. Den Grund dafür sollte man später erfahren.

Wir Kinder standen, zunächst mit unserem Kleiderbündel unterm Arm, in der „Stubn“ verängstigt um den Tisch herum, und die Mutter fing an zu beten: ein Vaterunser und Ave Maria nach dem andern, unterbrochen nur von Anrufen und Bitten aus allen bekannten Litaneien. Bei jedem Bombeneinschlag in der Nähe fing auch die Lampe noch an zu flackern.

Nach etwa einer Stunde klopfte jemand ans Fenster und fragte nach Vater, der zum Feuerwehreinsatz gerufen wurde. Später erfuhren wir, dass die Theilheimer Feuerwehr dem brennenden Hergolshausen zu Hilfe kommen wollte. Als die Theilheimer jedoch mit ihrer handgetriebenen Spritze in Hergolshausen ankamen, war die Spritze bei der klirrenden Kälte eingefroren. Man ließ die Spritze einfach stehen und versuchte, unter teilweisem Schutz im Straßengraben, wie man später erzählte, unverrichteter Dinge Theilheim und das Zuhause wieder zu erreichen.

Gegen Mitternacht klopfte es erneut am Fenster. Draußen stand die Hartmanns Elfriede (die Schwester von Adolf Hartmann) und schrie: „Ihr hockt da drinnen und da heraußen brennt`s!“ Wir stürzten alle hinaus, und tatsächlich war eine Brandbombe ca. 30 cm vor der Pforte nieder gegangen und brannte lichterloh. Meine Mutter behielt die Nerven und kannte sich offensichtlich aus: Sie holte nicht Wasser, sondern einen der Eimer Sand, die immer im Hof in Reserve standen und löschte das Feuer. – Wäre diese Brandbombe auch nur einen Meter weiter westlich eingeschlagen, hätte sie das Dach erwischt. Das Wohnhaus mit angebautem Kuhstall, mit Futterkammer, Schweinestall und Scheune wären von der Theilheimer Feuerwehr sicher nicht gerettet worden. Irgendwann, wohl gegen 1 Uhr morgens ging das Drama dann zu Ende, und Mutter brachte die Kinder ins Bett, ohne dass Vater wieder zurück gewesen wäre.

Am nächsten Morgen um 10 Uhr hatten wir „Kommunionunterricht“ in der Kirche als Vorbereitung auf die Erstkommunion. Obwohl in der 1. Klasse mit Winfried Fischer, Raimund Seufert, Georg Borst, Adolf Sauer, Herbert Rottenberger, Winfried Zehe, Otto Friedrich, Erna Preger, Agnes Kestler etc. ließen mich meine Eltern mit der zweiten Klasse von Georg Sauer, Josef Graf, Winfried Friedrich, „Schmieds“ Anton, Hedwig Stumpf (verh. Dülk), Ida Hetterich etc. an der Erstkommunion teilnehmen, da ich angeblich schon gut genug lesen konnte und man befürchtete, dass der Krieg ein Jahr später noch näher komme, was ja dann auch der Fall war.

Der noch junge Kuratus Erhard Martin, wie mein Onkel Alois Jahrgang 1910, gutaussehend und, wie ich später erfuhr, von den jungen, sehr frommen Mädchen als noch einziger junger Mann im Dorf angehimmelt, begann seinen Unterricht mit Erklärungen über die hl. Eucharistie, die geweihten Hostien, die Kommunion etc. etc. , ohne die Schrecken der Nacht auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Da auch die meisten Kirchenfenster in der Nacht zersprungen und zerborsten waren und der Wind kalt durch die Kirche pfiff, war ich überzeugt, dass der Herr Expositus, wie er auch hieß, in dieser Nacht unmöglich zuhause gewesen sein konnte; denn sonst hätte er doch wohl irgend was dazu gesagt. Als ich diese Meinung später der Tante Lidwina gegenüber äußerte, hat sie nur gelacht.

Im Laufe des Nachmittags fuhr dann ein Lastauto an unserem Haus vorbei, beladen mit einer „Luftmine“ so groß wie ein Jauchefaß. Man erzählte, dass sie, irgendwo zwischen Glasweg und Hammich, Gott sei Dank, nicht explodiert sei, denn sonst wäre wohl ein Teil des Dorfes nicht mehr da. Man erzählte auch, dass Hergolshausen, Bergrheinfeld, Grafenrheinfeld, Röthlein und Hirschfeld gebrannt hätten, weil sich die Bomber fälschlicherweise auf einen Acker von Hutten konzentriert hätten in dem Glauben, dort das Gaswerk von Schweinfurt getroffen zu haben. In Wirklichkeit hatten sie einen Haufen Kleeböcke getroffen, die der Gutsherr Hutten über den Winter dort zu Hunderten in einem Haufen auf freiem Felde gestapelt hatte. Dieses hell lodernde Feuer war den umliegenden Dörfern zum Verhängnis geworden.

75 Jahre sind inzwischen vergangen, aber in all diesen Jahren – gleichgültig, ob ich mich in Würzburg, Lyon, Aschaffenburg, Paris, London oder die letzten 52 Jahre in München aufhielt – ist kein 24. Februar vergangen, ohne dass ich dieser schrecklichen Nacht in Theilheim gedacht hätte.

München, den 24. Februar 2019

Unterschrift des Authors Willi  Bätz